Die nicht überlieferte Legende des Fluchs des Langen Luchs und des Boten Waldemar. Dort, wo in den alten Tagen der slawischen Götter noch Geister und Gespenster ihr Unwesen und ihren Schabernack trieben, dort führt uns diese Geschichte hin. Wir befinden uns in den tiefen und sumpfigen Wäldern, die einst den Grunewald ausmachten, der in den mittelalterlichen Urkunden noch als Teltower Heide geführt wurde.

In der Zeit der großen Slawenfürsten war das Gebiet, das heute unsere Region ausmacht, ein Land voller Moore und Sümpfe, die von Seen umgeben waren. Ein unwirkliches Stück Land und nie hätten sich die slawischen Gelehrten träumen lassen, dass dereinst so viele Menschen die Teltower Heide besiedeln würden. Die Slawen mieden jene unwirklichen Sumpfauen und Wälder. Sie fürchteten die Geister, die sich in den Gewässern und dem Dickicht des Waldes vor dem menschlichen Auge verbargen. Die slawischen Stämme des Mittelalters sahen sich nicht nur einer militärischen Übermacht ausgesetzt, sondern auch dem Verlust ihrer Götter. Der Askanier Albert I drang mit seiner Armee immer tiefer in das Gebiet der Slawen vor. Sein Ziel war es, sich zum Markgrafen von Brandenburg zu erheben. Der Krieg brach über die slawischen Stämme völlig überraschend herein und sie würden ihn verlieren.

Der Weg führe den unerfahrenen Boten des Magdeburger Bischofs zum Feldlager des sächsischen Grafen Albrecht I, der sich heftige Gefechte mit den Spreewanen lieferte. Von Spandau aus musste der Bote Waldemar durch das unwegige Gebiet der Teltower Heide. Er folgte einer mit einer Reihe von Gewässern gefüllten Rinne, die das Schmelzwasser früherer Zeiten schuf. An dessen Ostseite wäre ein Durchkommen möglich und so würde er den Weg zum Lager der Askanier finden. Er musste im Nebel durch das waldige Dickicht gehen, denn die slawischen Wächter hatten ihre Ohren und Augen überall. Ihre Götter sollen hier wohnen, erklärte ihm der Bischof persönlich und lachte schallend durch den Magdeburger Dom. Der Bischof schärfte ihm ein, wie wichtig es sei, diese Botschaft zu überbringen. Es gehe um den Willen des Papstes höchstpersönlich, das verstehe Waldemar doch, oder? Und Waldemar nickte, es war schon eine Ehre, überhaupt ausgewählt worden zu sein.

Waldemar durchstreifte das matschige Terrain und kam zu der erwähnten Seenkette, der er nach Süden folgen solle. Es war tatsächlich eine lange Ansammlung von Gewässern, wie auf einer Perlenkette aufgezogen. Diese Seenkette verjüngte sich und Waldemar bemerkte, dass der Ruf der Nebelkrähe plötzlich ausblieb. ‚Garstige Tiere‘, dachte der Bote. ‚Der Bischof ist überzeugt, es sind die Tiere des Teufels‘, vergegenwärtigte er sich und kam zu der Überzeugung, dass er es ebenso sah. Daher ging er von einem guten Vorzeichen aus. Er sprang frohen Mutes über einen kleinen Hügel, um den See zu sehen. Der See hatte eine seltsame Dunklung. Sicher, der Nebel stoppte den Schein der kraftlosen Sonne in jenen Tagen, aber es schien, als würde das Licht diesen See meiden. Instinktiv griff er nach seinem Holzkreuz, als er sich dem seltsamen Nass näherte. Wieder trat er in ein Loch, angefüllt mit dem Morast der Hölle, dachte der Bote. Seine Füße waren wieder nass und die Oktoberkühle trug kaum zu Besserung bei.

„Unter den Schmerzen des Flammenschwertes“, rief er aus, „reinige dieses verwunschene Land. Höchste Zeit, dass die Askanier hier für Ordnung sorgen.“ Der Bote – erzürnt über seine Lage, brüllte sich in Rage. Er beschimpfte den See als ein gottloses Gewässer: „Lebloses Heidenwässerchen, das bewegungslos vor sich hinfaule“, fügte er hinzu und spuckte voller erhitzter Inbrunst der Verachtung in den See. Er konnte es sich nicht mehr verkneifen. In einem andauernden Wall entlud er sich ungeachtet einer möglichen Beobachtung durch Slawen, des ganzen Frusts. Da hatte sich einiges aufgestaut, das in der Seele klemmte. Doch er fühlte sich dadurch nicht besser. Es reichte nur für die Wallung des Bluts. Vielleicht gibt es ihm die Kraft für ein schnelleres Vorkommen, dachte er sich und widmete sich erneut dem Weg. Ohne Vorzeichen, ohne einen Laut von sich zu geben, als stünde sie dort bereits eine geraume Weile, blickte ein junges Mädchen den Boten eindringlich an. Die Arme nach vorne gebeugt hielt sie einen Stapel Bruchholz. Der Bote kippte fast um, als er sie sah. „Um Himmels Willen“, raunte er und konnte sich nur mit Mühe weiteres Fluchen versagen. Nach dem langen Atem der Beruhigung fragte er das Mädchen, was sie da mache? Das kleine Mädchen wiederholte ihn belustigt: „Was ich mache? Ich existiere hier und Sie? Was tun Sie hier?“

„Ich durchquere nur das Land“, wiegelte er sie ab und schickte sich an, den Weg fortzusetzen. Er musste sich beeilen, es würde nicht lange dauern, bis das kleine Mädchen ihrem Stamm von ihm erzählen würde, was eine Kettenreaktion zur Folge haben könnte. Waldemar beschleunigte seinen Gang bei den Gedanken. Doch der See schien ihm kein Ende zu nehmen. Gewiss, so beruhigte er sich, trieb ihn nur die Angst um, bald eine Jagdtrophäe eines Häuptlings zu werden. Doch die Biegung des Sees, die Anhöhe, die Weide hinter der Birke, kam er wirklich voran? Er lief schneller und begann in völliger Unachtsamkeit des waldigen Untergrunds zu rennen. Als würde ihn Gott beschützen, rannte er über Stock und Stein, ohne zu stolpern. Den Blick nach vorne gerichtet, beschleunigte er seinen Gang weiter. „Vernünftig ist das nicht“, konstatierte er gedanklich, „schließlich muss ich mir meine Kraft einteilen, um das Lager der Askanier schnellstmöglich zu erreichen.“

Er darf den Brief nicht öffnen. Doch wunderte er sich schon, was so Wichtiges darin stehe. Doch die gedankliche Abschweifung fand ein jähes Ende mit der Erkenntnis, dass die Biegung des Sees lange noch nicht erreicht war. Wie konnte das sein? Er lief weiter, den Blick an der Biegung haftend. So schnell ging ihm die Puste nicht aus, aber bald würde es so weit sein. Lag es am matschigen Untergrund? Weil die Stiefel durchnässt waren? Lag es am düsteren Oktobertag? Es war so weit, die Geschwindigkeit ließ nach, das Schnaufen nahm zu und der Blick fiel aufs Wasser. Die Spiegelung zeigte ihn, doch Waldemar stand einfach nur so da. Regungslos. Waldemar hielt das für eine fehlerhafte Wahrnehmung seinerseits. Er stoppte und begann wieder zu rennen, doch das Spiegelbild auf dem See verriet ein anderes Szenario. Es zeigte ihn still dastehend. Der Puls von Waldemar raste, seine Augen waren weit aufgerissen und er flüchtete in alle Richtungen, ohne sich einen Meter zu bewegen, und sein Spiegelbild auf dem See machte ebenfalls keine Anstalten einer Bewegung. So blieb der Bote Waldemar wider seiner Natur an der einen Stelle stehen. Der Tag verging, die Sonne setzte sich und er saß in diesem matschigen Los, wo die Kälte das Wasser zum Glitzern brachte. Würde er die Nacht überleben, ohne Feuer, ohne Lager? Würde ihn ein wildes Tier angreifen? Wo war das Mädchen? Er rief sie über die längste Zeit – ohne Erfolg. Er schrie in der Verzagtheit die Namen seiner Familienmitglieder, als könnten sie ihn je hören – doch das Spiegelbild zeigte auch davon nichts. Die Stunden vergingen, die Stimme war heiser. Selbst wenn die Slawen ihn finden würden, alles war besser, als hier gefangen zu sein. Er betete, doch der Durst und der Hunger übernahmen bald das Denken. Er stand auf, doch er konnte nicht weg. Waldemar kauerte sich auf dem Boden, doch das Spiegelbild blieb stehen. Er bemerkte allmählich den Schmerz, der sich durch das steife Dastehen in den Schenkeln mehrte. Er rief nach dem Mädchen, er bat sie um Vergebung. Aus den Untiefen des ihn schaudernden Teils seiner Gedanken stieg die Frage nach einem möglichen Fluch empor. War es ein Geist? War es eine Gottheit? Die Fragen und das Weinen endeten, als die Sonne dieser Welt ihre letzten Wärmestrahlen entzog. Seine Verzweiflung war stärker als der Schmerz der Kälte, stärker als die quälenden Fragen und stärker als der Wunsch, nach Hause zu gehen. All das konnte der treue Waldemar ertragen. Das konnte ihn nicht brechen. Den Tod bescherte Waldemar letztlich die Frage, ob der Fluch des kleinen Mädchens über den Tod hinaus Bestand haben würde? Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff sich Waldemar in die Brust und starb zuckend am Ufer des Sees, der seinen Fluch reflektierte.

6 thoughts on “Grusel im Grunewald: Der Fluch des Langen Luchs

  1. Ich wollte auch gerade fragen, ob nicht überliefert heißt, dass die erfunden wurde. Das ist auch ein Kompliment. Daher auch von mir: Interessante Geschichte!

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