In Steglitz gibt es leider noch immer eine Treitschkestraße. Sie ist ein Überbleibsel eines antisemitisch-bismarckschen Diskurses über das Deutsch-Sein, dessen Höhepunkt sich durch den sogenannten ‚Antisemitismusstreit‘ zum Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin auszeichnete. Treitschke, der diesen Streit auslöste, war ein entscheidender Wegbereiter des Holocausts, denn er lieferte die pseudowissenschaftliche Grundlage für einen akzeptierten Antisemitismus in Deutschland.
Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts kroch der Antisemitismus wieder empor, und Preußen machte trotz der rechtlichen Emanzipation keine Ausnahme. Ein engagierter Vertreter des deutschen Antisemitismus war Heinrich von Treitschke. Er gab dem Antisemitismus seine irrsinnige Füllung.
Die Schuld für alles auf eine deskriptive Gruppe zu schieben, um die Unzufriedenheit der Menschen in Zeit von Wandel und Krise zu bündeln, eine entsprechende Diskursverschiebung nach rechts und die Akzeptanz von erfundenen Fakten veranschaulichen eine erschreckende Analogie zur Gegenwart.
Dabei ist der Vorgang nüchtern betrachtet genauso sinnbefreit wie das Wort selbst. Der Begriff Antisemitismus wurde 1860 geprägt und ist eine Zusammensetzung aus Anti – also Gegen – und Semitismus. Aber was soll Semitismus sein? Es gibt zwar semitische Sprachen, die Teil der afroasiatischen Sprachenfamilie sind, aber was soll der -ismus sein? Es ist eine verbale Konstruktion, um dem Hass gegen Juden einen wissenschaftlichen Klang zu verleihen.
Deutsches Reich: Bismarck orientiert sich rechts
Das frisch gegründete Deutsche Reich unter preußischer Führung wurde vom Reichskanzler Bismarck geleitet. Ab dem Jahr 1873 entwickelte sich eine Wirtschaftskrise und Bismarck wandte sich den konservativen Kräften im Reich zu. Er beendete den Freihandel mit Schutzzöllen, ließ die politische Linke verfolgen (Sozialistengesetze) und sprach von den inneren Reichsfeinden. Der Begriff erstreckte sich bald auch auf die jüdische Bevölkerung, die an der Wirtschaftskrise Schuld hätten.
Die ‚Judenemanzipation‘, die Preußen 1812 erließ, garantierte nicht alle Rechte gleichermaßen, aber weitgehend. Schon bald begriffen rechtsgerichtete Agitatoren, dass die Unzufriedenen mit einem Feindbild eingefangen werden können. Was heute Asylsuchende und Arbeitslose sind, waren in jenen Tagen die Jüdinnen und Juden. Und die rechten Strömungen waren damit gleichfalls erfolgreich. Aber für eine größere Reichweite und zur Quasi-Legitimation brauchte es einen konstruktiven Unterbau, der die lächerliche These von der Schuld des Judentums stützte.
Im Antisemitismus vermengte sich zu der Zeit Judenfeindlichkeit mit Biologismus, der Wissenschaftlichkeit vortäuschte. Anhand von Nasen- und Schädelform sollte der Nachweis des Jüdischen erbracht werden. Darauf aufbauend wurden Charaktere zugeschrieben, die heute noch den Antisemitismus prägen.
Wer war Heinrich von Treitschke?
Einer der Propagandisten des Antisemitismus war Heinrich von Treitschke. Er wurde 1834 in Dresden in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete als Redakteur und Historiker. Seine frühen Werke widmen sich der Wirtschaftsliberalisierung. Er war gegen Zölle und für eine liberale Wirtschaft.
Doch das änderte sich bald, als Treitschke sich nach der Promotion der Geschichte zuwandte. Er überwarf sich mit seinem Vater über Fragen der Heimatehre und blieb in seiner Karriere stecken. Er wechselte die Universitäten. Allerdings fand er mit seiner offenbar aufbrausenden Art nicht nur Freunde. Im Jahr 1873 wurde Treitschke an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die heutige Humboldt-Universität, geholt.
Schon seit 1858 war Treitschke Redakteur der Zeitschrift ‚Preußische Jahrbücher‘ und wandelte sich vom Wirtschaftsliberalen zum Konservativen, was sich auch an seiner Einstellung gegenüber Bismarck exemplifiziert. Treitschke wurde vom Gegner Bismarcks zu einem glühenden Anhänger. In diesem Zuge stieg auch sein Hass auf alles, was vom Preußisch-Protestantischen abwich – im Besonderen die Sozialdemokratie und das Judentum.
Nach der Reichsgründung 1871 trat er der Nationalliberalen Partei bei, für die der bis 1884 im Reichstag saß – obwohl seine Weltanschauung kaum demokratisch war. Die Nationalliberale Partei lag im konservativen Parteienspektrum des kaiserlichen Reichstags. Sie stand zwar für Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit, allerdings im Interesse der Wirtschaft und für die wohlhabende Bevölkerungsschicht.
Treitschke vermengte seine konservativen Ansichten mit seiner Arbeit über die Geschichte. Seine Werke atmen seinen Geist und sind aus objektiver Sicht unbedeutend. Allein für die Darstellung des keimenden Antisemitismus können sie noch herhalten. Treitschkes Hauptwerk, die ‚ Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert‘ dient allein der Verherrlichung Preußens und der Abwertung anderer Länder und Staaten. Frankreich erklärt er aufgrund der unterschiedlichen Staatsvorstellungen zu Erzfeinden und geizt nicht mit Chauvinismus. Damals wie heute erreichte man mit solch plumpen Ideen viele Menschen, die Wissenschaft verwarf die Texte allerdings wegen mangelnder Objektivität. Dennoch erhielt Treitschke den Historikerpreis des Kaiserreichs 1884, vielleicht ja auch wegen der Glorifizierung Preußens.
Aber seiner Beliebtheit tat das keinen Abbruch. Er war ein charismatischer Redner, der selbst im hohen Alter viele Zuhörer fesselte. Seine Vorlesungen wurden zu Events, zu welchen – ganz in seinem Denken verhaftet – den Frauen der Zugang verwehrt war.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Treitschke war glühender Anhänger der preußischen Vormachtsfantasien, Treitschke war Monarchist, Treitschke war Militarist, Treitschke war Chauvinist, Treitschke war Imperialist, Treitschke war Kolonialist, Treitschke verachtete Frauen, Treitschke bekämpfte Linksgerichtete, Treitschke wertete Slawen ab. Treitschke war Wegbereiter des Ersten Weltkriegs und Treitschke war einer der wichtigsten Initiatoren des Antisemitismus, der zum Holocaust führte.
Der Treitschkestreit alias Antisemitismusstreit
Der politische Antisemitismus, wie ihn Heinrich von Treitschke mit aufbaute, ist der Wegbereiter des Holocausts. Im Jahr 1879 bahnt sich dieser politische und pseudowissenschaftliche Antisemitismus seinen Weg in die Gesellschaft. In einer publizistischen Schlammschlacht wird der Begriff ‚Antisemitismus‘ von Treitschke in die Öffentlichkeit getragen.
In seinem Pamphlet „Unsere Aussichten“ postuliert er, es gäbe eine breite Zustimmung zum Antisemitismus in Deutschland, der geheim gehalten werden würde. Er verweist darauf, dass es innere Reichsfeinde gäbe, gegen die man sich wehren müsse. Dazu zählten denn auch die Juden, wofür er das Wort Antisemitismus übernahm. Die jüdische Emanzipation sollte begrenzt werden, was mit der Entfernung von Rechten einhergehen würde. Es sollte Berufsverbote für sie geben und die Immigration von jüdischen Personen sollte unterbunden werden.
Sowohl die Wissenschaftsgemeinde als auch die Politik und Intellektuelle nahmen an der entfachten Diskussion über die ‚Judenfrage‘ teil und trugen das Wort ‚Antisemitismus‘ in alle Richtungen weiter. Treitschkes Erachtens nach, stünden Verweichlichung und Judentum der Deutschen Einheit entgegen. Die jüdische Bevölkerung wolle sich ja gar nicht an ihr Land anpassen, in welchem sie quasi zu Gast wären. Sie würden das Entgegenkommen der Deutschen mit Undank begleichen. Dass das bei den Deutschen zu Antisemitismus führen würde, sei ja eine logische Folge. Überhaupt würden sie Deutschland sinngemäß überfremden, sie würden die Bevölkerung überwuchern (‚Umvolkung‘) und die Presse würde das alles verschweigen (‚Lügenpresse‘). Die deutsche Kultur würde durch die immigrierten Juden vermischt (‚Multi-Kulti-Romantik‘) werden, was eine Gefahr darstellen würde.
Verblüffend sind die Ähnlichkeiten zu heutigen Demagogen.
Treitschke formulierte dann den Satz, den die Nazis für ihr Kampfblatt übernahmen: „Die Juden sind unser Unglück!“
Die Wissenschaftsgemeinde wies auf fehlende Belege hin und zog zu Recht eine Verbindung zur Verschwörungserzählung vom brunnenvergiftenden Judentum. Treitschke reagierte gereizt auf die Bloßstellung seiner Arbeit und griff seine Kritiker persönlich an. Mehr noch, er drehte den Spieß einfach um und konstatierte ihnen, sie wären die eigentlichen Judenhasser. Im weiteren Verlauf steigerte sich Treitschke in seinem Hass und sprach von „Blutvermischung“, der Ungleichwertigkeit des Judentums, von der Priorisierung einer Religion (dem Protestantismus) und zog dafür sogar die untere Schublade, dass die Juden Jesus getötet hätten.
Die konservativen Medien nahmen Treitschkes Ansätze auf und verbreiteten sie. Dazu gehörte auch das Parteiblatt der Zentrumspartei, deren Mitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg die CDU mitgegründet hatten. Andere Antisemiten stimmten in den Chor der Menschenverachtung ein und hoben Treitschke zum Wortführer des deutschen Antisemitismus empor. Auf diesen Schriften aufbauend, erhärteten sich die Forderungen zur Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung, woran sich die späteren Maßnahmen der Nationalsozialisten ableiteten.
Führende Persönlichkeiten wie Johann Gustav Droysen, Rudolf von Gneist, Rudolf Virchow und Theodor Mommsen stellten sich öffentlich gegen Treitschke. Im Gegenzug versuchte Treitschke Mommsen in der Öffentlichkeit zu verunglimpfen. Zuletzt ergriff Mommsen das Wort, dem Treitschke nichts mehr entgegenbrachte. In der Wissenschaftsgemeinde war Treitschke bald isoliert. Derart hat Treitschke diesen Antisemitismusstreit verloren.
Doch der Schaden der Diskussion war nicht mehr rückgängig zu machen. Hatte die Diskussion doch die Annahme unbewiesen angenommen, es gäbe einen jüdischen Charakter. Auch die Idee, jüdische Mitmenschen wären keine Deutschen, verfing in der Bevölkerung gleichermaßen wie erfundene Annahmen über die jüdische Bevölkerung durch Treitschkes Einsatz und diesen Streit. Die Schriften dienten antijüdischen Vereinen und Parteien, denn der Antisemitismus hatte nun durch Pseudowissenschaftlichkeit eine breitere Grundlage. Außerdem hatte Treitschkes Meinung in der Öffentlichkeit Gewicht, derart trug er zur generellen Judenfeindlichkeit bei.
Treitschkestraße in Steglitz
Bis ins Jahr 2025 ehren die Stadt Berlin und der Bezirk Steglitz–Zehlendorf diesen Mann mit einer Straße. Seit fast 30 Jahren versucht man gegen den erklärten Willen der CDU diese Straße umzubenennen. Zuletzt versuchte die CDU diesen Schritt mit formalen Mitteln zu verhindern. Treitschke erhielt sogar noch 1952 (!) ein Ehrengrab, das erst 2003 wieder zurückgenommen wurde. Doch dieses Jahr wird die Umbenennung endlich erfolgen. Zu Recht!
Treitschke war weder ein guter Wissenschaftler, noch kann man ihm rückblickend etwas Positives abgewinnen. Er war offenbar ein begabter Redner, doch sprach er eben aus dem Hass heraus. Sein Werdegang und sein Engagement können uns heute einzig noch als warnendes Beispiel dienen, denn die Ähnlichkeiten zu heute sind erschreckend. Die ganze Diskussion wird heute anhand von Asylsuchenden durchgespielt – sogar die Argumente bleiben dieselben. Nur heute können wir – vielleicht anders als es damals der Fall war – auf längere Sicht absehen, wohin dieser Diskurs führen wird.