Am Dachsberg wurde 1923 ein griechischer Student mit zwei Kopfschüssen hingerichtet. Es fanden sich verschiedene Ausweisdokumente und Geld bei ihm. Welche Indizien gibt es zu diesem mysteriösen Fall? Polizeiarbeit vor 100 Jahren.
Drei Zeitungsartikel dienen diesem seltsamen Fall als Grundlage. Es sind der Tatortbericht, eine Ermittlungsspur und ein Abschlussbericht. Doch der Ausgang des Falls bleibt geheimnisumwittert. Das männliche Opfer im Alter von 19 Jahren wurde mit zwei Kopfschüssen hingerichtet. War es ein Täter, war es eine Täterin und was könnte das Motiv gewesen sein?
Inflation, Armut und Kriegsschuld
Diese Kriminalgeschichte aus dem Berliner Grunewald kommt aus dem Jahr 1923 in unsere Gegenwart. Daher möchte ich noch einige Worte zu Berlin vor 100 Jahren anbringen.
Auf dem Dach meiner Eltern fand ich als Kind noch einige Scheine aus der Zeit der Hyperinflation der 1920er Jahre. Es gab Scheine, auf denen ein Betrag von mehreren Million Mark ausgewiesen wurde. Mein Vater winkte ab und erklärte, das Geld war nie etwas wert. Das war es tatsächlich nicht. Die Inflation verteuerte alles binnen von Monaten, dann Wochen, dann Tagen, dann Stunden.
Um die Reparationen aus dem Versailler Vertrag zu bedienen, druckte Deutschland zu der Zeit sehr viel Geld. Die Folge war eine dramatische Geldentwertung, die zum Ende des Jahres 1923 zu einer Hyperinflation heranwuchs. Um dies zu verdeutlichen, nehmen wir die letzthöhere Inflationsrate des Euros, die 2022 6,9 Prozent ausmachte. Die Reichsmark inflationierte im Herbst 1921 bereits bei 100 Prozent. Zwölf Monate später wuchs die Inflation auf 1.000 Prozent. Doch es war keine Entspannung in Sicht. Im Januar 1923 erreichte sie die 7.400 Prozent-Marke und im Spätsommer 1923 lag die Geldentwertung in Deutschland bei sagenhaften 21.328 Prozent. Im November 1923 sind 524 Trillionen Mark im Umlauf gewesen. Ein Kilogramm Brot kostete Ende Oktober 1923 130 Milliarden Mark und sprengte das Budget im November mit 420 Milliarden Mark. Für einen US-Dollar erhielt man gen Ende des Jahres 1923 rund eine Billion Mark.
Tatort Forstrevier Dachsberg | Tod mit zwei Kopfschüssen
[Trigger-Warnung: Detaillierte Beschreibung von Gewaltanwendungen]
Diese Geschichte spielte Ende März des Jahres 1923. Berlin bereitet sich auf das Osterfest vor. Der Gründonnerstag war ein sonniger Tag mit einer Lufttemperatur von warmen zehn Grad Celsius. In den Tagen davor war es nur halb so warm. Ein junger Mann verabschiedete sich von seinen Freunden. Was er nicht ahnt, ihn erwartet der Tod.
Die Armut in Berlin grassierte noch stärker als die Inflation, die schon damals vielen Menschen den wirtschaftlichen Boden entzog. Oft ist das Ersparte von Generationen weg, die Lebensmittelpreise stiegen und Feuerholz wurde aus dem Wald geholt. Zwei Jungs gingen an jenem Karfreitag 1923 um 7 Uhr morgens in den Wald und besorgten bei rund zwei Grad über Null Reisigzweige. Dabei machten sie einen grausigen Fund in dem Bereich, der heute Dachsheide heißt, rund 300 Meter vom Forsthaus Dachsberg entfernt.
Der leblose Körper des 19-jährigen Mannes liegt mit dem Gesicht in einer Blutlache, die sich im Matsch des Bodens ausbreitet. Die Kinder informierten den Förster Hermann, der die Polizei benachrichtigte. Noch am Feiertag erreichten die Beamten den Ort des schrecklichen Geschehens. Allerdings nicht ohne einen veränderten Tatort vorzufinden. Die Idee der Spurensicherung entwickelt sich zwar in Berlin, doch eine entsprechende Mordkommission nach den Vorstellungen von Ernst Gennat gibt es erst ab 1926. Im Jahr 1923 war die Aufklärungsquote in Preußen eher gering. Ob die Polizei in diesem Fall den Täter findet, ist der Meinung der Lesenden überlassen.
Die Polizeiakten existieren heute sehr wahrscheinlich nicht mehr, da sie nur 30 Jahre gelagert werden. Aber selbst wenn es sie noch gäbe, könnte man sie lediglich als Betroffener oder Angehöriger einsehen. Der Tatortbericht in der Zeitung ist jedoch sehr detailliert. Der Tote wies zwei Kopfschüsse auf und die Polizei ging davon aus, dass der Mann von hinten erschossen wurde. Die Kugel durchschlug den Hut des auf 25 Jahre geschätzten Opfers und trat oberhalb des Augenlids wieder aus dem Kopf.
Der zweite Schuss wurde aus allernächster Nähe abgefeuert, da die Haut an der Stelle verbrannt ist. Das Opfer musste zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Boden gelegen haben. Der Schuss trat am rechten Ohr in den Kopf ein und rund fünf Zentimeter neben dem linken Ohr wieder aus. Die Tatwaffe war vermutlich eine Pistole, die aber am Tatort nicht aufgefunden wurde. Der Täter oder die Täterin musste sich also neben den bereits toten oder im Sterben befindlichen Mann gekniet und ihm die Pistole an den Kopf gehalten haben. Er wurde also richtiggehend exekutiert. War es Hass oder wollte die Person sichergehen, dass der Mann tot war? Warum diese Brutalität?
Die Polizei fand bei dem Toten mehrere Ausweisdokumente und Schriftstücke. Doch die Dokumente wiesen verschiedene Namen auf. Es fand sich auch ein Banksparbuch auf einen anderen Namen bei dem Toten. Zudem sicherte man in seiner Brieftasche 28.000 Reichsmark und mehrere Hundert Mark waren in der Tasche seiner Jacke. Wegen der steigenden Inflation waren das an Ostern 1923 umgerechnet rund 200 Euro. Den Wert habe ich an der Menge an Brot, die es zu der Zeit dafür gab und die man heute dafür kaufen kann, berechnet. Wurde der Mann des Geldes wegen erschossen? Und warum ließ der Täter oder die Täterin 28.000 Reichsmark zurück?
An der Leiche und in der näheren Umgebung wurde die Pariser Zeitung „Petit Journal“ gefunden. Der herumliegende Teil nutzte ein nicht näher beschriebener Mann, so berichtet es die zeitgenössische Zeitung, für seine „Notdurft“. War das der Förster, der von den Kindern informiert wurde? War es einer der Polizisten, die auf die Kommissare warteten? Der Bericht bleibt an der Stelle sehr vage, aber es gibt keinen Verweis auf den Täter oder die Täterin. Wurde der Journalist vielleicht angehalten, die Person außer Acht zu lassen? Vielleicht ein Tausch von Gefälligkeiten? Das ist selbstverständlich reine Spekulation. Der Mangel an Spurensicherung des Tatorts ist vermutlich auch der Grund dafür, dass der Zeitungsartikel kein Wort über den Todeszeitpunkt verliert.
Da die Mehrzahl der Dokumente auf den Namen „Dimitri Papademitries“ ausgestellt waren, vermutete die Polizei ihn hinter dem Opfer. Und die Wahrscheinlichkeit gab ihnen recht. Dimitri Papademitries wurde am 16. Juni 1902 in Korinth in Griechenland geboren, studierte Medizin und erlernte in Berlin Deutsch. Er war gerade vier Monate in Berlin und hinterließ seine Mutter und seine Schwester in seiner Heimatstadt. Er wohnte in einer möblierten Pension in der Uhlandstraße 90, die damals eine bekannte Anlaufstelle in Berlin für Studierende aus Griechenland war.
Eine Spur führt in die Schweiz oder in die französische Schweiz. Die Zeitung Petit Journal kam aus Paris und auf seinem Konto bei der Commerz- und Privatbank fand man eine Einzahlung in Höhe von 80 Schweizer Franken. Außerdem wurden 181 US-Dollar vorgefunden. Die Einzahlungen wurden unter anderem Namen vorgenommen, also von einer anderen Person durchgeführt. 181 US-Dollar waren damals eine sichere Anlage, aber stellten im März 1923 noch keinen höheren Geldbetrag dar. Zu dieser Zeit bekam man dafür rund 21.000 Reichsmark. Am Ende des Jahres hingegen erhielt man im Wechsel gegen so viele US-Dollar viele Billionen Mark.
Am Gründonnerstag, den 29. März 1923 gegen 17 Uhr verabschiedete sich Papademitries von seinen Freunden. Er bemerkte, er habe jetzt ein Rendez-vous. Die Recherche ergab zudem, dass Papademitries rund 100.000 Reichsmark bei sich getragen haben soll. Dieses Geld fehlte nach seinem Tod. Nur die 28.000 Reichsmark wurden gefunden. Eine Differenz von umgerechnet etwas über 500 Euro. Starb Papademitries wegen dieses Betrages? Hat sein Date ihn umgebracht? Wurde er in eine Falle gelockt? Die Polizei sprach in diesem Zusammenhang von einer großen Menge Bargeld, die entwendet worden sei.
Die Polizeikommissare Dr. Riemann und Dräger übernahmen die Ermittlungen in diesem Fall und stellten eine Belohnung in Höhe von 100.000 Reichsmark in Aussicht. Doch eine andere Spur würde bald einen Treffer ergeben: Die Auskünfte der Bank über die Geldbeträge.
Auflösung des Falls des griechischen Studenten
Am Dienstag, den 3. April 1923 schien der Fall „Dimitri Papademitries“ geklärt worden. Der Täter war ein Bekannter des Opfers. Auf seine Spur kamen die ermittelnden Kommissare durch den Namen der Überweisung von 80 CHF und 181 US-Dollar. Sein Name war Diemitries Georgatus, der ebenfalls aus Griechenland stammte und in einer Pension in der Joachimsthaler Straße 6 wohnte. Georgatus war des Deutschen mächtig und lebte bereits anderthalb Jahre hier. Wir erfahren sogar, dass er der Sohn eines Schuhfabrikanten war.
Georgatus freundete sich mit Papademitries an, der zwar Deutsch lernen wollte, aber kaum sprach. Das lag auch daran, dass er hauptsächlich mit Landsleuten verkehrte. Georgatus gewann sein Vertrauen, indem er ihm auch die Verwaltung seines Geldes anbot. Der Artikel geht von dubiosen Geldern aus, da Georgatus „scheinbar selbstlos“ handelte.
An jenem Gründonnerstag 1923 feierte Papademitries mit anderen Griechen im Ausflugslokal Paulsborn im Grunewald bis ca. 19 Uhr. Dann verließ die Gesellschaft das Lokal. Doch Papademitries erscheint zusammen mit einem Freund kurz darauf wieder im Paulsborn, wo sie bis 21 Uhr im Garten der Kneipe zu Abend aßen. Der Kellner konnte jedoch keinen der vorgeladenen Personen wiedererkennen. Nur Georgatus fehlte noch bei der Gegenüberstellung. Er meldete sich offenbar krank.
Zusammen mit dem Gerichtsarzt Prof. Dr. Strauch begaben sich die Kommissare Dr. Riemann und Dröger zum Verdächtigen, um ihn zu verhören und womöglich gleich mitzunehmen. Der Gerichtsarzt befand den Verdächtigen für transportfähig, doch man ließ ihn zunächst in der Wohnung von Beamten bewachen. Am nächsten Tage sollte er ins Krankenhaus gebracht werden. So kamen die Beamten den nächsten Tag zurück. Zwar leugnete Georgatus die Tat, doch die Beamten hatten keinen Zweifel an seiner Schuld.
Als die Wache ihn aus den Augen ließ, stürmte Georgatus davon und sperrte sich in ein Zimmer ein. Doch das Zimmer bot keinen anderen Fluchtweg. Georgatus stürzte sich aus dem Fenster und blieb tot im Innenhof liegen. Das Motiv für die Tat nahm er mit ins Grab.
Der Artikel schließt mit: „Es wird vermutet, dass Georgatus auch noch anderes auf dem Kerbholz hatte. Er scheint ausschließlich von der Ausbeutung seiner Landsleute gelebt zu haben.“ War das auch der Grund für den Tod des 19-jährigen. Er starb wegen ca. 500 Euro?
Die Brutalität ist womöglich der Zeit geschuldet, in der die Angst vor Armut durch Inflation allgegenwärtig war. Georgatus ging damals keiner Arbeit nach. Niemand wusste genau, wie er sein Geld verdiente. Vielleicht gab er sich als reich aus, um die Leute letztlich um ihr Geld zu bringen. Beim Tathintergrund scheint es sich ja auch um Geldgeschäfte gehandelt zu haben. Womöglich war es Mord aus niederen Beweggründen. War Gier sein Mordmotiv? Vielleicht sah der Mörder voraus, dass die Inflation weiter steigen würde.
Allerdings kann man nicht sicher sein, dass Georgatus tatsächlich der Mörder war. Ob die Tatwaffe bei ihm gefunden wurde, lässt der Artikel offen. Was das beschmutzte Zeitungspapier betrifft, gibt es ebenso wenig Auskunft darüber.
Was war geschehen? Schreib Deine Spekulationen in die Kommentare.
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