Im Juni 1974 wurde ein junger Mann an der Krummen Lanke im Grunewald ermordet. Der Mörder von Ulrich Schmücker wurde nie gefasst. Schmücker war in die Fänge eines verräterischen Geflechts geraten, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Sein Tod setzte einen Justizskandal in Gang, der die illegalen Machenschaften der Behörden in Berlin bloßstellte. Denn sein Mörder könnte vom Verfassungsschutz bezahlt worden sein. Eine dramatische Geschichte von Macht, Mord und Verrat, welche das Berliner Leben schrieb und nagende Fragen hinterlässt, die bislang unbeantwortet bleiben. Eine Ablauffrist für solche Geheimnisse gibt es hierzulande nicht.
Es ist eine unfassbare Geschichte, die vor allem in Kreuzberg spielte und im Grunewald ihr jähes Ende fand. Ulrich Schmücker wurde mit einer Pistole aus dem Ersten Weltkrieg, eine Luger, erschossen. Allein das ist nach vier Prozessen und 15 Prozessjahren vor einem manipulierten Berliner Justizsystem zur Faktenlage zu sagen.
Ulrich Schmücker war Mitglied der linksradikalen Terrorzelle „Bewegung 2. Juni“ und auch ein Spitzel des Berliner Verfassungsschutzes. Dieses filmreife Thrillerleben war ihm selbst zu viel. Das war womöglich das Motiv für seinen Tod. Entweder starb er aus Rache am Verrat durch eine linksradikale Gruppierung (Wolfsburger Gruppe) oder er war für den Verfassungsschutz ein Problem geworden, das man mit seinem Tod zu lösen suchte. Dieser Fall deckte einige Machenschaften der Behörden auf und ist ein Element weiterer Terroranschläge, die auch vom Verfassungsschutz organisiert wurden. Dieses Geflecht vollständig aufzudecken, ist ähnlich dem Versuch, einen Pilz ganz auszugraben, nicht möglich.
Der Junge vom Lande: Wer war Ulrich Schmücker?
Der junge Ulrich Schmücker war offenbar ein sensibler junger Mann mit einem ausgeprägten Wunsch nach Gerechtigkeit. Er war entgegen des konservativen Zeitgeistes ein Freund von Beatmusik und langen Haaren, doch wollte er eigentlich Pfarrer werden.
Er schrieb sich in Berlin für Geschichte und Ethnologie ein und wurde 1971 Mitglied der „Schwarzen Hilfe“, die Strafgefangenen half. Als Benno Ohnesorg durch Polizeischüsse starb, eskalierte das Gewaltverhältnis. Auch Ulrich Schmücker radikalisierte sich. Dann traf er auf die Bewegung 2. Juni, die sich der Militanz verschrieb. Thomas Weisbecker und Georg Rauch gehörten ebenfalls dieser gewaltbereiten Strömung an, die sich nach dem Todestag von Benno Ohnesorg benannte.
Schon im April 1972 beteiligte sich Schmücker an einem Anschlag auf den Offiziersclub der US-Truppen im Harnack-Haus in Dahlem. Der Anschlag war ein Protest gegen den Vietnamkrieg, doch die Bombe detonierte nicht.
Als in der Türkei Studierende und revolutionäre Genossen hingerichtet werden sollten, beteiligte sich Schmücker an einem geplanten Bombenanschlag auf das türkische Konsulat in Bonn. Auch dieser Versuch war erfolglos: Sie wurden im Mai 1972 im Auto schlafend von der Polizei vorgefunden und kontrolliert. Bei der Überprüfung des Kofferraums fanden die Polizisten den Sprengstoff.
Anwerbung durch den Verfassungsschutz
Unter den Haftbedingungen in der JVA Dietz litt der sensible junge Mann erheblich. Das brachte wohl auch den Verfassungsschutz auf den Plan, der in Form von Oberamtsrat Michael Grünhagen tätig wurde. Unter dem Namen Peter Rühl stellte sich Grünhagen dem verzweifelten Schmücker vor.
Mit Aussagen wie: ‚die anderen haben schon gestanden‘ trickste Grünhagen den 20-jährigen Schmücker aus und entlockte ihm einige Details über die Szene. Es war offenbar das patentierte Vorgehen dieses Mannes vom Verfassungsschutz. Das wurde nach einigen Jahren aufgedeckt. Noch lange (vielleicht bis zu seinem Tod) glaubte Schmücker, dass er nichts verraten habe und nur bestätigte, was der Verfassungsschutz schon gewusst hätte.
Angesichts der Aussicht auf zweieinhalb Jahre Haft wegen des versuchten Anschlags nahm Schmücker das Angebot von Grünhagen wahr, als V-Mann zu arbeiten. Kurze Zeit später wurde er mit Auflagen aus der Haft entlassen. Er sollte die größeren Fische im Terrornetz damaliger Bewegungen anlocken, sodass sie in Reichweite des Verfassungsschutzes waren. Für Grünhagen war Schmücker sicherlich ein Joker, denn ihm könnte es gelingen, sich ins Umfeld der Top-Terroristen vorzuarbeiten.
Schmücker haderte aber bald mit seiner Entscheidung. Zu dem Zeitpunkt ahnte er aber noch nicht, wie viele V-Männer der Verfassungsschutz in den Reihen der militanten Genossen hatte. Doch Schmücker erscheint Grünhagen offenbar als ergiebige Quelle. Ulrich Schmücker kehrte nach Kreuzberg zurück. Er war einerseits der Terrorist Ulrich Schmücker und andererseits führte er nun ein Leben als Spitzel für den Verfassungsschutz mit Decknamen „Kette“.
Für den überzeugten Schmücker war das Doppelleben kaum zu ertragen und so fand er sich auch nicht so recht in seine Rolle als Verräter seiner Freunde. Um den Verrat wieder gut zu machen, überlegte sich Schmücker einen neuen Verrat am Verfassungsschutz. Er wollte seinen Kontaktmann „Rühl“, der Michael Grünhagen hieß, vor die Kamera seiner Genossen lotsen. Tatsächlich aber beobachtete der Verfassungsschutz die Aktion ihrerseits. Grünhagen tauchte nicht auf. Der Plan misslang.
Es war das letzte Aufbäumen des jungen Schmückers gegen Grünhagen. Fortan würde er tun, was ihm aufgetragen wurde. Unter einem anderen Namen begab er sich erneut in den Kreis der Kreuzberger Szene, wobei er von Götz Tilgener unterstützt wurde. Dieser Tilgener trieb im weiteren Verlauf ein skurriles Spiel und endete äußerst bizarr.
Schmücker zog in die Zeughofstraße und verliebte sich in eine Frau, die zur Freude des jungen Mannes schwanger wurde. Doch das Glück blühte nur kurz, denn Schmücker wurde enttarnt.
Eine Gruppe aus Wolfsburg suchte Kontakt zu Terrorgruppen und ihnen wurde Schmücker empfohlen. Doch sie erhielten einen Tipp, er sei ein Spitzel. Zudem kamen Protokolle seiner Abtrünnigkeit ans Licht und erreichten seine Wohngemeinschaft. Dort war er nun nicht mehr willkommen. Ulrich Schmücker war verstoßen und als Verräter gebrandmarkt. Dem nicht genug endete mit der Publizierung seines Verrats auch die Liebe seiner Partnerin. Sie trieb deshalb ab und verließ ihn.
Ulrich Schmücker versuchte sich reinzuwaschen und widerrief sein Geständnis. Doch sein Verbindungsmann Grünhagen alias Rühl setzte auf Drohungen, um Schmücker auf der Spur zu halten. Schmückers Optionen waren begrenzt, schließlich war sein Haftbefehl wieder in Kraft gesetzt worden. Dass er den Verrat bereute, dass er sich ehrlich machen wollte, könnte Schmücker zum Sicherheitsrisiko für den Berliner Verfassungsschutz gemacht haben. Vielleicht reagierte er auf die Drohungen von Grünhagen ebenfalls mit Drohungen. Vielleicht ging es dabei um Geheimnisverrat?
Götz Tilgener | Der Betrug einer zweiten Chance
Götz Tilgener wird später ein verhängnisvolles Interview zu dem Fall im deutschen Fernsehen geben. Aber zu dem Zeitpunkt war er, genau wie Schmücker, ein V-Mann des Verfassungsschutzes. Götz Tilgener und eine weitere Terrorgenossin planten eine Hinrichtung Schmückers wegen Verrats. Schmücker zeigte sich geständig und gab an, er wollte nur dem Knast entgehen. Er gelobte Ehrlichkeit.
Tilgener täuschte Schmücker darüber, ihm eine zweite Chance zuteilwerden zu lassen. Schmücker sollte sich dafür bei der IRA beweisen. Hat der Todeskandidat zu dem Zeitpunkt neue Hoffnung geschöpft? War es ihm ein Silberstreif am düsteren Firmament oder erkannte er gar die Falle?
Tatsächlich sah die Planung von Götz Tilgener eine Hinrichtung Schmückers im Wald vor, wozu das Bekennerschreiben bereits getippt war. Doch entweder versäumte Schmücker den Termin oder er hatte die Einladung zu dem Treffen im Wald nicht bekommen.
Wer ist plötzlich dieser Volker Weingraber?
Ein weiterer Akteur des Dramas von Geheimnis und Verrat betritt nun die Bühne. Der Kellner in jener Kneipe namens „Tarantel“, in der Schmücker und Tilgener über die zweite Chance sprachen, war Volker Weingraber. Auch er arbeitete als Vertrauensmann des Verfassungsschutzes. Und er nahm eine bedeutende Rolle in diesem Spiel ein, das zum Tod von Ulrich Schmücker führte.
Ulrich Schmücker wird an der Krummen Lanke ermordet
Gemieden von der revolutionären Szene, verlassen von seiner Liebe, isolierte sich Schmücker zunächst. Doch offenbar bemerkte er eine Bedrohungslage durch seine bisherigen Freunde. Schmücker kontaktierte am 31. Mai 1974 Grünhagen, von dem er sich Schutz erhoffte. Er nannte Namen von bedrohlichen Personen.
Ein Anruf des Verfassungsschutzes hätte genügt, ihn vor der Szene zu schützen, da ein Haftbefehl gegen ihn bestand. Doch der Verfassungsschutz tat nichts. Das kritisierte später eine Richterin. Natürlich hätte er auch selbst zur Polizei gehen können. Stattdessen wollte Schmücker vom Verfassungsschutz eine Waffe, um sich zu verteidigen. Das wurde ihm aber verwehrt.
Die letzten Momente des verstoßenen Terroristen sind kaum zusammenzufügen. Zu viele Unterlagen und Aussagen wurden manipuliert. Doch man kann das Bekannte zu einem verschwommenen Bild zusammenfügen.
Am Morgen des 4. Juni 1974 arbeitete Schmücker in einem Hotel in Sichtweite des Standorts des Berliner Verfassungsschutzes. Es wird später eine Anweisung zur Observation geben, doch das Protokoll dazu ist nicht mehr vorhanden gewesen.
Vielleicht zur späteren Verteidigung gab es aber wohl eine Warnung von Volker Weingraber, dass Schmücker bedroht sei. Weingraber gehört aber selbst zum Kreis der möglichen Täter. Er berichtete von einem VW-Wagen voller Terroristen, die sich an Schmücker rächen wollten. Sie sollen Schmücker quasi auf dem ‚Kiecker‘ haben. Womöglich handelte es sich dabei um die Wolfsburger Terroreinheit, die den Verräter möglicherweise beseitigen wollten. Sie sollen das Gelände der Krummen Lanke zuvor erkundet haben.
Schmücker bittet um ein Treffen mit Grünhagen alias Rühl. Was dann geschah, ist nicht mehr geklärt worden. Erst um kurz nach 22 Uhr wurde Schmücker noch mal gesehen. Er soll sich in dem verlassenen Hotel „Rheingold“ aufgehalten haben. Das Haus lag rund einen Kilometer entfernt von dem Ort, an dem Schmücker gut zwei Stunden später sterben wird.
Gegen Mitternacht befand sich Ulrich Schmücker in Gesellschaft. Eine oder mehrere Personen waren mit ihm an der Krummen Lanke in der Nähe des Parkplatzes Fischerhütte. Der Spiegel schrieb später fälschlicherweise Jagen 144, aber es war Jagen 44.
Um 0 Uhr und 15 Minuten in der Nacht zum 5. Juni 1974 fand ein US-Soldat auf Übung im Grunewald den röchelnden Schmücker. Der Schuss in seinen Kopf ließ die Schädeldecke aufklappen. Die Tatwaffe, eine Luger Pistole des Kalibers 9 mm, war für lange Zeit verschwunden. Inzwischen weiß man, welchen Weg die Waffe genommen hat.
Genau diese Waffe übergab Volker Weingraber kurze Zeit später seinem Verbindungsmann Grünhagen, den der als Steinecker kannte. Nach offizieller Aussage lehnte Grünhagen die Annahme der Waffe ab. Das soll er erst einen Tag später getan haben. Wie dem auch sei, diese Tatwaffe wurde nach 15 Jahren im Tresor des Verfassungsschutzes an der Clayallee gefunden. Allerdings fand man nach all der Zeit darauf noch die Fingerabdrücke von Grünhagen und Weingraber, nicht jedoch von den mehrfach schuldig Gesprochenen.
Hat der Verfassungsschutz die Chance genutzt, um einen wankelmütigen V-Mann loszuwerden, bevor er andere Agenten aufdeckt? Hat Grünhagen von einem Treffen dort gewusst und seinen Agenten Weingraber losgeschickt, um Schmücker zu töten? Oder hat der allererste Fememord in der Geschichte der linksterroristischen Szene stattgefunden? Es gab schließlich ein Bekennerschreiben der Bewegung 2. Juni, dass es sich um eine Hinrichtung wegen Verrats handelte.
Woher die Waffe kam, ist unklar. Sicherlich, Schmücker war Terrorist. Aber bei ihm wurde keine Munition für diese Waffe gefunden. Die Beschuldigten, die Wolfsburger Gruppe, wurden später drei Mal für schuldig gesprochen. Diese drei Urteile hob das übergeordnete Gericht wegen massiver Fehlleistungen der Justiz wieder auf. Der andere mögliche Mörder aus den Reihen des Verfassungsschutzes bewohnte zwischenzeitlich ein Weingut in Italien.
Teil 2 des Mords an Ulrich Schmücker mit den juristischen Auswirkungen